IN MEMORIAM KLAUS JUNGE

Dr. Mario Ziegler, promovierter Historiker, war wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universitäten Saarbrücken und Erlangen. Er ist A-Trainer Leistungssport des Deutschen Schachbundes, Referent für Ausbildung des Pfälzischen Schachbundes. Der Herausgeber der Zeitschrift Caissa war lange eine Stütze des  SC TURM.  Beruflich zog es ihn nach Birkenfeld, wo er als Schachlehrer wirkt.  Den Kontakt zum SC TURM hat Mario stets gewahrt.

Mario verfasste eine Studie über die große deutsche Schachhoffnung Klaus Junge, der vor 100 Jahren geboren wurde. Eine gekürzte Fassung seiner Studie erschien im SCHACHKALENDER. Mario hat akribisch recherchiert, alle seine Aussagen wissenschaftlich belegt. Unten eine Fassung von Marios Beitrag mit reduzierten Quellenangaben.

    Zum 100. Geburtstag von Klaus Junge

                       Klaus Junge bei seinem letzten Turnier 1942 in Prag

                        Standbild aus der ‚Descheg-Monatsschau‘ 10 1942

Es gibt Geschichten, die nur der Sport schreibt. Und es gibt Geschichten, die der Sport hätte schreiben können, es aber nicht getan hat. Wie hätte sich die Schachgeschichte verändert, hätte Emanuel Lasker 1910 nicht die geheimnisumwitterte letzte Partie seines Matchs gegen Carl Schlechter noch gewonnen und dadurch den Weltmeistertitel gerettet? Wie wäre eine Weltmeisterschaft Laskers gegen Akiba Rubinstein ausgegangen, die spätestens nach dessen großen Erfolgen 1909/10 im Raum stand? Was wäre passiert, hätte es 1937 den fest geplanten Weltmeisterschaftskampf Alexander Aljechins gegen Salo Flohr gegeben? Die Historie des königlichen Spiels ist voller Konjunktive und voller Fragezeichen.

Die gleichen Fragezeichen darf man hinter die Laufbahn eines Mannes setzen, dessen Geburtstag sich 2024 zum hundertsten Mal jährt. Vielfach wird er als eines der größten Schachtalente bezeichnet, die Deutschland je hervorgebracht hat, wenn nicht sogar als das größte. Die Rede ist vom Hamburger Klaus Junge. Sein kometenhafter Aufstieg machte einen Star aus ihm und nährte die Hoffnung Schachdeutschlands, in ihm einen künftigen Anwärter auf die Weltmeisterschaft zu haben. Doch verbindet sich, in den Worten seiner Biographen Budrich und Schulte, „mit dem Namen Klaus Junge … die tiefe Tragik eines jungen Menschen, dem es nicht vergönnt gewesen ist, voll auszureifen und seine außergewöhnlichen Anlagen zu höchster Vollendung zu entwickeln“. Auf ihrem Höhepunkt, nach dem mit Aljechin geteilten Turniersieg im Dezember 1942 in Prag, endete Junges Turnierkarriere abrupt, und als er wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs fiel, war der Spekulation um seine hypothetische Weltkarriere Tür und Tor geöffnet. Als ein Beispiel unter vielen sei Ludek Pachmann zitiert, der in seinem Werk ‚Die berühmtesten Spiele der deutschen Großmeister‘ (München 1977) ausführt: „Klaus Junge wäre mit voller Sicherheit eine der größten Gestalten der Schachgeschichte der letzten Jahrzehnte gewesen, hätte zur höchsten Schachelite der Welt gehört und vielleicht für Deutschland nach vielen Jahren Unterbrechung den Weltmeistertitel erobert. Eine objektive Analyse läßt auch eines vermuten: Klaus Junge wäre der einzige Schachspieler gewesen, der nach dem Kriege hätte erfolgreich gegen die sowjetischen Großmeister kämpfen können.“

Während diese Überlegungen notwendigerweise Spekulation bleiben müssen, will der folgende Artikel die Stellung thematisieren, die Junge zu seinen Lebzeiten in Deutschland innehatte: Seine sportliche Position innerhalb der nationalen Schachelite, darüber hinaus aber auch seine Rolle als Symbolfigur des nationalsozialistischen Schachsports.

Mein Dank für ihre Hinweise gilt (in alphabetischer Reihenfolge) Herbert Bastian, Manfred Frerichs, Hans-Jürgen Fresen, Bernd-Peter Lange, Andreas Saremba, Bernd Wagner und Eva Maria Zickelbein.

Leben und Karriere

Klaus Johann Junge wurde am 1. Januar 1924 als jüngstes von sieben Kindern (fünf Jungen und zwei Mädchen) einer deutschstämmigen Familie im chilenischen Concepción geboren, wohin sein Urgroßvater Dr. Johann Heinrich Junge 1855 ausgewandert war. 1928 siedelte die Familie nach Deutschland über und wurde in Hamburg ansässig. Das Schachspiel erlernte Klaus von seinem Vater Otto, der selbst ein starker Spieler war. Erste Spuren der Schachbegeisterung des damals Achtjährigen sind 1932 in der Löserliste eines Schachproblemwettbewerbs der ‚Wiener Schachzeitung‘ zu finden. Seit 1936 war er Mitglied des Hamburger Schachklubs. Nachdem er zweimal eine Schulklasse übersprungen hatte, legte er 1941 das Abitur ab und begann ein Mathematikstudium an der Universität Hamburg.

Junges erstes nachweisbares Schachturnier war das Weihnachtsblitzturnier des Hamburger Damenschachklubs 1936, das er mit 1,5 Punkten Vorsprung für sich entschied. „Dass ein später sehr bekannter Meister ausgerechnet in einem Damenturnier seinen ersten öffentlichen Auftritt erlebte, dürfte ein Unikum in der Schachgeschichte darstellen.“ (Anderberg: Neues von Klaus Junge)  Für das Jahr 1937 liegen vereinzelte Partien und die Nachricht über den Sieg in der II. Klasse der Klubblitzmeisterschaft des Hamburger Schachklubs im Dezember vor. Junge beteiligte sich zudem am Preisausschreiben des ‚Hamburger Tageblatts‘, das aus vier Schachproblemen bestand. Seine eigentliche Schachkarriere begann 1938 mit seinem ersten Sieg bei einem größeren Turnier, der Gruppe B3 des Nordmark-Kongresses in Bergedorf bei Hamburg, die er mit 6,5 Punkten zu seinen Gunsten entschied.

Die weiteren Ergebnisse Junges:

JahrTurnierErgebnis
1938Klubblitzmeisterschaft des Hamburger SKPlatz 1 in der Klasse II mit 10 Punkten aus 10 Runden
1939Klubmeisterschaft des Hamburger SKPlatz 6 mit 5,5 Punkten aus 11 Runden
 Nordmark-Kongress in LübeckPlatz 1 der A-Klasse mit 9 Punkten aus 11 Runden
 Vorrunde der Nordzone des Hans Schemm-Pokals (deutsche Vereinsmeisterschaft) in HannoverPlatz 1 mit der Mannschaft des Hamburger SK, 3 Punkte aus 3 Partien an Brett 7
 Hans Schemm-Pokal, Endrunde in StuttgartPlatz 3 mit dem Hamburger SK, 4,5 Punkte aus 5 Partien an Brett 8
1940Winterturnier des Hamburger SK 1939/40Platz 2 mit 5,5 Punkten aus 7 Runden hinter Karl Breyde
 Hamburger BezirksturnierPlatz 2 mit 8,5 Punkten aus 11 Runden hinter Denis Finotti
 Nordmark-Kongress in HamburgPlatz 4 in der Meisterklasse mit 3,5 Punkten aus 7 Runden hinter Herbert Heinicke, Hans Kordts und Alfred Brinckmann
 Weihnachtsblitzturnier des Hamburger SKPlatz 3 in der Klasse I mit 4,5 Punkten aus 7 Runden hinter Herbert Heinicke und Erich Woehl
1941Hamburger BlitzmeisterschaftPlatz 1 mit 32 Punkten aus 39 Partien
 Klubmeisterschaft des Hamburger SKPlatz 1 mit 6 Punkten aus 7 Runden dank der besseren Wertung vor dem punktgleichen Herbert Heinicke
 Hamburger StadtmeisterschaftPlatz 1 mit 9 Punkten aus 9 Runden
 Nordmark-Kongress in HamburgPlatz 1-2 der Meisterklasse mit 6 Punkten aus 7 Runden. Den Stichkampf gegen Herbert Heinicke gewann Junge mit 2:1.
 Wertungsturnier in Bad ElsterPlatz 1 mit 5 Punkten aus 7 Runden
 Großdeutsche Meisterschaft in Bad OeynhausenPlatz 1-2 mit 10,5 Punkten aus 15 Runden. Den späteren Stichkampf gegen Paul Felix Schmidt verlor Junge mit 0,5:3,5.
 2. Turnier im Generalgouvernement in Krakau und Warschau[1]Platz 4 mit 7 Punkten aus 11 Runden hinter Alexander Aljechin, Paul Felix Schmidt und Efim Bogoljubow
 Weihnachtsblitzturnier des Hamburger SKPlatz 1 mit 8,5 Punkten aus 9 Runden
1942Turnier der Schachgesellschaft DresdenPlatz 1 mit 7,5 Punkten aus 9 Runden
 Hamburger MeisterschaftPlatz 1 mit 8,5 Punkten aus 9 Runden
 Wertungsturnier in RostockPlatz 2 mit 6,5 Punkten aus 9 Runden hinter Carl Carls
 Sechs Meister-Turnier in SalzburgPlatz 3-4 mit 5 Punkten aus 10 Runden mit Paul Felix Schmidt hinter Alexander Aljechin und Paul Keres
 Europäische Meisterschaft in MünchenPlatz 7 mit 5 Punkten aus 11 Runden hinter Alexander Aljechin, Paul Keres, Efim Bogoljubow, Kurt Richter, Jan Foltys und Gedeon Barcza.
 3. Turnier im Generalgouvernement in Warschau, Lublin und KrakauPlatz 2 mit 6,5 Punkten aus 10 Runden hinter Alexander Aljechin
 Nationales Meisterturnier der Schachgesellschaft „Augustea“ LeipzigPlatz 2 mit 5,5 Punkten aus 7 Runden hinter Walter Niephaus
 Turnier zu Ehren des 60. Geburtstags von Oldrich Duras in PragPlatz 1-2 mit 8,5 Punkten aus 11 Runden mit Alexander Aljechin

 Mit seiner Einberufung zur Reichswehr 1943 endete Junges Turnierkarriere. Bis zu seinem Tod ist lediglich noch eine einzige Wettkampfpartie bekannt: während eines Heimaturlaubs spielte er bei einem Mannschaftskampf des Hamburger Schachklubs gegen den Schachclub Union an Karfreitag und Ostersonntag 1944 gegen Walter Sahlmann. Für die deutsche Meisterschaft des Jahres 1944, die in Wien stattfinden sollte, war Junge vorgesehen gewesen, doch kam dieses Turnier wegen der Kriegslage nicht mehr zustande. In den letzten Kriegstagen, am 17. April 1945, kam Klaus Junge bei Gefechten bei Welle in der Lüneburger Heide ums Leben.

Klaus Junge beim Turnier in Salzburg 1942
Archiv des Hamburger Schachklubs von 1830


Überlegungen zur Spielstärke Junges

Bei der einen oder anderen Gelegenheit äußerte sich Weltmeister Aljechin sehr positiv über Klaus Junge und brachte ihn sogar als möglichen künftigen Herausforderer ins Gespräch, etwa anlässlich einer Simultanveranstaltung im Februar 1942 in Karlsruhe: „Auf die Frage nach dem Stand der Weltmeisterschaft erwiderte Dr. Aljechin, daß er wohl oder übel später einmal einem Jüngeren den Titel werde abgeben müssen. Er nannte hier den Esten Keres, sowie die deutschen Meister Eliskases und den 18jährigen Klaus Junge, der besonders begabt für die Weltmeisterschaft in Betracht käme.“ Aussagen wie dieser sollte nicht zu viel Gewicht beigemessen werden. Aljechins opportunistische Haltung gegenüber dem Dritten Reich ist bekannt, und das Lob eines deutschen Nachwuchsstars dürfte den Beifall seiner Gönner gefunden haben. Aljechin wird sehr wohl die Stärke eines Michail Botwinnik, gegen den er in drei Vergleichen lediglich zwei Remis zustande gebracht hatte, als „titelwürdig“ eingeschätzt haben, doch dass der Name des sowjetischen Juden Botwinnik in diesem Zusammenhang nicht fallen durfte, ist leicht einsichtig. Gleiches gilt für andere Spieler, deren Nationen sich im Krieg mit Großdeutschland befanden. Man kann den Berechnungen historischer Elo-Zahlen durch den Mathematiker Jeff Sonas (http://www.chessmetrics.com/) kritisch gegenüberstehen, doch ergeben sie für die Jahre 1940-1950 ein sehr eindeutiges Bild: Als klar stärksten Spieler dieses Jahrzehnts weisen sie Michail Botwinnik aus, gefolgt von Alexander Aljechin und den beiden US-Amerikanern Reuben Fine und Samuel Reshevsky. Ebenfalls zur engeren Weltspitze zählten nach diesen Berechnungen die Großmeister Paul Keres (Estland), Mieczysław (späterMiguel) Najdorf (Polen/Argentinien), Max Euwe (Niederlande) und Gideon Ståhlberg (Schweden). Von all diesen Spielern trat Junge lediglich gegen Aljechin und Keres an, gegen beide mit negativem Gesamtergebnis (Aljechin: 1:4 bei einem Remis, Keres: 0:1 bei zwei Remis). Diesem Umstand trägt Aljechin Rechnung, wenn er im gleichen Bericht der ‚Pariser Zeitung‘ des Jahres 1942, in dem er Junge und Paul Felix Schmidt als „vollwertige, einer Weiterentwicklung durchaus fähige Vertreter [des Großdeutschen Reichs]“ bezeichnet, Keres trotz zuletzt schwächerer Ergebnisse als „unbestrittenen Führer der jetzigen Jungmeistergeneration“ betitelt.

Ein anderes Bild ergibt sich bei der Betrachtung der Ergebnisse Junges gegen die nationale Spitze des Großdeutschen Schachbundes:

Gegner+=gesamt
Bogoljubow, Efim1222/5
Brinckmann, Alfred1111,5/3
Carls, Carl 110,5/2
Heinicke, Herbert3124/6
Keller, Rudolf2  2/2
Kieninger, Georg1 22/3
Lokvenc, Josef1 11,5/2
Müller, Hans  10,5/1
Rellstab, Ludwig11 1/2
Richter, Kurt1 11,5/2
Sämisch, Fritz1 22/3
Schmidt, Paul Felix 442/8

Diese Resultate zeigen Junge den meisten seiner Gegner ebenbürtig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sie in sehr jungen Jahren erzielt wurden. Gemessen an seinem Alter war Junges Spielstärke zweifellos außergewöhnlich. David Hooper und Kenneth Whyld behaupten, nur Botwinnik und der Ungar László Szabó hätten zuvor im Alter von 18 Jahren eine vergleichbare Spielstärke besessen wie Junge (The Oxford Companion to Chess, Oxford, New York 1988).

Diese Ergebnisse zeigen Junge als ein aufsehenerregendes Talent, das immer in der Lage war, in die Preisränge der Turniere zu gelangen, an denen es teilnahm. Weil aber diese Turniere ohne einen Großteil der stärksten Spieler ihrer Zeit stattfinden mussten, ist es gewagt, Junge als potentiellen Weltmeister der Nachkriegsjahre anzusehen.

Symbolfigur des deutschen Schachs

Unter der Leitung von Reichstrainer Willi Schlage fand vom 11. bis 16. August 1939 in Fürstenwalde/Spree eine „Jugendschachwoche“ statt, zu der die größten Talente des Landes eingeladen wurden. Nach der Absage dreier weiterer Spieler fanden sich die 17jährige Edith Keller (Dresden), der 17jährige Karl Krbavac (Wien), der 15jährige Rudolf Kunath (Leipzig), der 14jährige Wolfgang Unzicker (München) und der 15jährige Klaus Junge ein. Ab diesem Zeitpunkt dürfte das aufstrebende Talent aus Hamburg, dem die ‚Deutschen Schachblätter‘ neben Unzicker die größte Begabung nachsagten, im Fokus der Verantwortlichen des Großdeutschen Schachbundes gestanden sein. Seine in kurzer Zeit aufeinanderfolgenden Erfolge und die damit verbundene Erwähnung in der überregionalen Schachpresse sorgten rasch für Popularität unter den Schachanhängern.

Unter dem Titel ‚Schachmeister-Aspiranten‘ veröffentlichte Prof. Hans Seger am 21.9.1941 einen Artikel in der ‚Schlesischen Zeitung‘, der den „Starkult“ um Klaus Junge illustriert: „Klaus Junge ist über Nacht ein berühmter Junge geworden. Kein Wunder, daß man ihm überall nachzueifern versucht. Besonders in den Kreisen der Siebzehnjährigen, seiner Altersgenossen. Jeder Junge will heute Klaus Junge werden. So sitze ich dieser Tage mit drei solchen Jungen in einem Abteil der Stadtbahn. Zwei von ihnen spielen während der Fahrt Schach. Sie haben ein kleines Schachbrett zwischen sich stehen, in das die Figuren hineinzustecken sind, so daß sie gegen jeden Unfall gesichert sind. Der dritte Junge spielt die Rolle des Zuschauers, aber er hat, wie das immer bei Kiebitzen zu sein pflegt, das größte Wort. Als der eine Spieler einen Schachzug macht, fällt das gewichtige Wort, das mich aufhorchen lässt: ‚Junge, Junge, das würde Klaus Junge nicht gemacht haben.‘ Jetzt weiß ich, auch in den Köpfen dieser Jungen spukt der jugendliche Meister Klaus Junge. Auch sie sind auf dem besten Wege, ihrem Vorbild gleichzukommen.“

Schulte und Budrich beschreiben Junge für die Zeit um 1941 als „Symbol für die deutsche Schachwelt und … Vorbild für die aufstrebende Schachjugend“ und formulieren über die Erwartungen, die an ihn gerichtet wurden: „Der Gedanke daran, ihn als einen Stern erster Größe am Schachhimmel einmal nicht unter den Preisträgern eines Turniers zu finden, schien einfach absurd.“

Hier ist es an der Zeit, über die politische Haltung Junges zu sprechen. Peter Anderberg zitiert Klaus‘ zweitältesten Bruder Günter Junge, der als einziger der Brüder den Weltkrieg überlebte: „Sein [des Vaters] idealisiertes Deutschlandbild von Chile aus und dann in Deutschland die enttäuschend harte Wirklichkeit mit der Wirtschaftskrise, sozialer Not (6 Millionen Arbeitslose) und Sittenverfall, führten Otto wie so viele Deutsche der Nationalsozialistischen Partei zu …“ Heinz Lehmann bezeichnet Otto Junge gar als „Fanatiker“. Es ist leicht nachvollziehbar, dass in einem solchen Elternhaus die politische Gesinnung des jungen Klaus früh geprägt wurde. Alles spricht dafür, dass er überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus war. Daher ist Pachmanns Vermutung, Junge hätte sich als berühmter Schachspieler dem Frontdienst entziehen und im sicheren Hinterland bleiben können, müßig: Offenkundig hegte Klaus Junge keinerlei diesbezügliche Absichten. Aus einem Brief vom 9. Januar 1945 an Alice Fischer, die „gute Seele“ des Hamburger Schachklubs, wird deutlich, dass Junge noch zu diesem späten Zeitpunkt von einer Wende des Kriegsglücks überzeugt war: „Unsere Lage hat sich ja auch in der letzten Zeit ganz erheblich gebessert. Nach dem großen Angriff im Westen sind wir nun ja auch im Kurland und nach dem heutigen Wehrmachtsbericht auch in Ungarn offensiv geworden. Wer hätte das wohl im August für möglich gehalten? Es ist wirklich erstaunlich, in welch kurzer Zeit wir uns nach den fürchterlichen Schlägen des letzten Sommers erholt haben.“  Mit dieser Haltung decken sich Augenzeugenberichte über die letzten Kriegstage in Welle, in denen Junge zu Tode kam: „Die Soldaten unter dem Befehl von Leutnant Klaus Junge lagerten in Welle an unserem Grundstück. Sie wollten vor Welle die aus Süden angreifenden englischen Panzer mit Panzerfäusten aufhalten. Meine Großmutter Auguste Renken hatte bereits ein weißes Tuch aus dem Dachfenster heraus gehängt, denn der Kampflärm war laut hörbar, und die Engländer rückten auf Welle zu. Ein Soldat zwang Großmutter mit vorgehaltener Pistole, die weiße Fahne wieder herunter zu holen, andernfalls würde er sie erschießen. Meine Mutter Auguste Dibowski und meine Schwester Anita fragten Leutnant Junge: ‚Womit wollt Ihr denn noch den Krieg gewinnen?‘ Darauf entgegnete er: ‚Hiermit!‘ Er zeigte dabei auf seine Pistole und auf sein Herz.“

Druckschrift des Hamburger Schachklubs aus dem Jahre 1942
                             Abbildung: Hans-Jürgen Fresen

Kommen wir zurück zu Junges Schachlaufbahn. Hier ergab sich eine Konstellation, die für die Verantwortlichen des Großdeutschen Schachbundes geradezu ideal war: Ein herausragendes junges Talent mit enger Bindung an den Staat, mit dem sich die schachbegeisterte Jugend identifizieren konnte. Sicher werden die Schachfunktionäre nicht von Beginn an den Plan gehabt haben, ihn zum „Vorzeige-Schachspieler“ des Dritten Reichs aufzubauen, aber genau diese Rolle nahm Klaus Junge, der mit seinen blonden Haaren auch äußerlich dem nationalsozialistischen Ideal entsprach, immer mehr ein. Im letzten Jahr seiner Karriere, das zugleich sein sportlich erfolgreichstes war, ist das Bild des staatstreuen deutschen Schachmeisters vollständig ausgeprägt. „Klaus hat es verstanden, […] dem Schachspiel und den damit verbundenen theoretischen Studien nur soweit Zeit und Kraft einzuräumen, als Aufgaben der allgemeinen Ausbildung […] und Pflichten im vaterländischen Dienste, dem er sich mit Ueberzeugung und Begeisterung hingab, es gestatteten“, so die Ausführungen von E. Friedrich in einer Druckschrift des Hamburger Schachklubs über den Werdegang Klaus Junges aus dem Jahre 1942. Im gleichen Jahr zeigte sich Junge durch die Uniform des Reichsarbeitsdienstes, die auf mehreren Bildern der Turniere von Salzburg und Prag 1942 zu sehen ist, öffentlich als Repräsentant des Staates. Dass er als solcher möglichst oft in Erscheinung treten sollte, klingt zwischen den Zeilen in der weiter unten behandelten Entgegnung des Bundesgeschäftsführers Ehrhardt Post gegen Emil Josef Diemer an. Post muss konzedieren, dass Junge in seinen Partien nicht immer einen vorbildlichen Kampfgeist gezeigt habe, doch dies erklärt er „als eine Folge der allzu starken Inanspruchnahme der Kräfte des jungen Meisters, dem in der Unrast unserer Tage nicht die Zeit zum langsamen Heranreifen gelassen werden konnte, der vielmehr von der Bundesleitung fast pausenlos – meist ohne Übung direkt vom Arbeitsdienst kommend – zum Kampfe gegen schwerste Gegner gestellt wurde“.

In dieser Hinsicht drängt sich ein Vergleich mit einem der größten Sportidole der 1930er Jahre auf. Wie viele andere Spitzensportler der damaligen Zeit suchte der Rennfahrer Bernd Rosemeyer (1909-1938) die Nähe zum Nationalsozialismus und trat 1933 in die SS ein. Wie weit hier innere Überzeugung und wie weit Opportunismus eine Rolle spielten, muss an dieser Stelle nicht thematisiert werden, doch steht fest, dass er zu einem der größten Sportstars des Dritten Reichs aufstieg. Als er am 28. Januar 1938 bei einem Rekordversuch mit seinem Auto tödlich verunglückte, war „die Nation … im Schockzustand. Tausende erweisen dem Rennfahrer die letzte Ehre und geleiten den Leichnam auf den Waldfriedhof in Berlin-Dahlem, wo er am 1. Februar 1938 beigesetzt wird. … Dazu hält eine Abordnung der ‚Leibstandarte SS Adolf Hitler‘ die Mahnwache. Eine finale Inszenierung“ (Klee, Ralf; Trede, Broder-Jürgen: Bernd Rosemeyer – Rekordjagd in den Tod, Spiegel Online, 25. Januar 2008), der lange Spekulationen über die genauen Umstände seines Todes folgten. Rosemeyer blieb nach seinem Tod in der öffentlichen Wahrnehmung ein Mythos.

Man kann Klaus Junge bezüglich seiner Popularität ganz sicher nicht mit Rosemeyer vergleichen, aber im begrenzten Rahmen des Schachsports nahm er eine vergleichbare Rolle ein. Seine besondere Bedeutung in der deutschen Schachszene verdeutlicht eine literarische Kontroverse, die durch den Schachautor Emil Josef Diemer losgetreten wurde und „zeigt, welche belastende Erwartungen an Klaus Junge als Vorbild der deutschen Schachjugend geknüpft wurden …“. In der Januar-Ausgabe der ‚Deutschen Schachzeitung‘ 1943 veröffentlichte Diemer den Text „Schachkampf und Kunst“, den er mit den bedeutungsschweren Worten einleitete: „Das Problem ‚Klaus Junge‘ ist ernst für den jungen Meister, darüber hinaus aber auch für das gesamte deutsche Schach und seine Zukunft.“ Im Folgenden spricht er von einem „vergreisten Stil“, den nicht nur Junge, sondern auch die „anderen Jungmeister“ an den Tag legten. Interessanterweise ist Junge jedoch der einzige, den Diemer beim Namen nennt. Anhand seiner letzten Partien versucht Diemer, Junge mangelnde Bereitschaft zum Kampf nachzuweisen, was nicht zuletzt durch die Wahl der geschlossenen Eröffnungen zum Ausdruck komme. Das entscheidende Schlagwort in diesem Zusammenhang lautet „Kampfschach“, das Junge nach Diemers Ansicht zuletzt nicht mehr gezeigt habe.

Die Antworten erfolgten in den ‚Deutschen Schachblättern‘ und fielen umfangreich und scharf aus. Nach einer Entgegnung durch den prominenten Fernschachspieler Dr. Eduard Dyckhoff  gab auch Bundesgeschäftsführer Post eine Erklärung ab, und auch er ließ schon im ersten Satz die Bedeutung des Themas anklingen: „Gegen sonstigen Brauch habe ich vorstehend einen polemischen Artikel in den Deutschen Schachblättern zugelassen [den von Dr. Dyckhoff]. Das geschah weniger deshalb, weil die Auslassungen von E. J. Diemer etwa so bedeutend wären, sondern weil sie in der angesehenen und auch im Auslande gelesenen Deutschen Schachzeitung erschienen sind und ein Schweigen darüber im Bundesorgan als Zustimmung und Schuldbekenntnis aufgefaßt werden könnte. Denn die […] Kritik richtet sich nicht nur gegen Klaus Junge, sondern sie donnert zugleich auch gegen den übrigen deutschen Nachwuchs und wirft schließlich der Bundesleitung vor, für die Erziehung der Jugend zum Kampfschach nicht genügend getan zu haben.“

Das Schlusswort in dieser Angelegenheit sprach der Meisterausschuss des Großdeutschen Schachbundes in Person seines Obmanns Alfred Brinckmann: „Der deutsche Meisterausschuß erklärt die Ausführungen [von Diemer] nach Form und Inhalt für unqualifizierbar und hält es für seine Pflicht, den seit Gedenken erfolgreichsten deutsche Jungmeister gegen derartige Ausfälle nachdrücklich in Schutz zu nehmen. Vor allem lehnt auch der Meisterausschuß die von Diemer vertretene naive Auffassung von ‚Kampfschach‘ völlig ab.“

Nicht nur die Formulierung  „der seit Gedenken erfolgreichste deutsche Jungmeister“, sondern die gesamte Kontroverse verdeutlichen Junges Position. An seiner Person wird exemplarisch der Vorwurf des mangelnden Kampfgeistes der Jungmeister durchexerziert, er steht stellvertretend für die ungenannten Nachwuchstalente, die Diemer in seine Vorwürfe einbezieht, aber nicht namentlich anspricht.

Nachwirken

In diametralem Gegensatz zur Bedeutung Junges zu seinen Lebzeiten steht sein heutiger Bekanntheitsgrad. Selbst mehrere Gedenkturniere (Regensburg 1946, Hamburg 1955, 1980 und 2005) führten nicht dazu, die Erinnerung an ihn aufrecht zu erhalten. Neben der allgemeinen Tendenz im modernen Schach, „alte Meister“ dem Vergessen anheimfallen zu lassen, sehe ich den Grund in einer gewissen Scheu gegenüber einem erfolgreichen Sportler des Dritten Reichs. „Klaus Junge ist in der Welt fast vergessen, obwohl er eine der größten Hoffnungen für die Kämpfe um die Weltmeisterschaft nach dem Zweiten Weltkrieg war […] Sein Leben ist fürs deutsche Schicksal der damaligen Zeit fast symbolisch – vielleicht ist gerade dies ein Grund dafür, warum man ihn am liebsten vergessen möchte“, so Ludek Pachmann. Pachmann hat dem Vergessen entgegengewirkt, indem er Junge in den illustren Kreis der deutschen Großmeister einbezog, denen er sein Werk widmete. Ich hoffe, dass auch dieser Artikel dazu beiträgt, sich wieder etwas stärker mit den verschiedenen Facetten des Klaus Junge zu beschäftigen.

Grab Klaus Junges auf dem Friedhof Welle (Landkreis Harburg, Niedersachsen)
                                      (Abbildung: Andreas Saremba)

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